Die Pferdekoppel glich eher einem Sumpf als einer Weide. Es regnete, zwar nicht ununterbrochen, aber doch insgesamt schon fünf Tage lang. Kalypso, der schwarze Rappe, hatte absolut keine Lust durch diesen Morast zu stapfen. Also steuerte er die überdachte Futterkrippe drüben am Hof an. Doch in dem Moment kam der alte Bauer mit seinem fast so alten Traktor um die Ecke. Nicht dass Kalypso vor einem Traktor Angst gehabt hätte. Nein, er nicht, aber sein Boxenfreund Jadir, der tempramentvolle braune Araber drehte schon mal wegen so einer Lächerlichkeit durch. Und so rannte er, mehr aus Solidarität als aus Panik, Jadir hinterher im gestreckten Galopp zurück in die Box.
Im Stall angekommen, drehte sich Kalypso um und sah wie der alte Bauer ganz gemächlich mit seinem tuckernden Traktor vorbei fuhr. Er zog einen alten pferdetauglichen Leiterwagen, allerdings mit Gummirädern bestückt, weshalb man sowas im Allgäu auch „Gummiwagen“ nennt.
Die vorbeischnurrende Brennholzfuhre hatte etwas von einer Prozession an sich. Etwas, das Kalypso inzwischen sehr gut kannte. Denn er zog ab und zu den Leichenwagen bei Beerdigungen.
Er hatte sich um diesen Job nicht beworben, sondern ein findiger Bestatter aus der Stadt sprach eines Tages seine Besitzerin mit dieser Frage an. Er erläuterte ihr blumig, wie er mit dem Wiederaufleben des Leichenzuges eine Marktlücke erschließen wolle. Dass die modernen Menschen sich wieder nach Ritualen sehnen würden. Kalypso verstand ja nun nichts vom Bestatterhandwerk und er wurde ja auch nicht gefragt, ob er denn gerne ein Leichenwagenpferd sein möchte? Seine aufgeschlossene Chefin jedenfalls fand die Idee gut, auch weil sich dadurch eine kleine Einnahmequelle erschließen ließe und zum anderen war er geradezu prädestiniert für diesen Job.
Denn Kalypso war rabenschwarz und mit seinem Stockmaß von Einem Meter Achzig eine ganz stattliche Erscheinung. Zudem war er sehr brav und mit ganz starken Nerven im Straßenverkehr ausgestattet. Sein langer und behäbiger Gang taktete immer schon so ähnlich wie die bekannten Trauermärsche.
Jeder Leichenzug folgte immer dem gleichen Ritual. Doch war es für Kalypso jedesmal wieder ein neues Erlebnis. Er spürte das schon beim ersten mal, dass er hier etwas ganz Besonderes tat.
Allein schon sein Dasein, sein Geschnaube, sein Hufeisengeklapper, elektrisiert die Leute. Wenn er seinen großen langen Kopf ein wenig zu Seite neigte und den Menschen ins Gesicht sah, dann öffneten sich ihre Blicke und auch die Herzen. Manche kommen sogar an ihn heran und streicheln ganz sanft seinen Kopf. Und genauso sanft stupst er dann zurück. Die Leute verstehen dies meist als Geste der Verständnis und der Zuneigung obwohl es ihm da mehr praktisch um etwas Fressbares geht. Aber dieses Missverständnis ist egal.
Er lenkt die Aufmerksamkeit der Trauernden auf sich, weg vom Schmerz und der Bedrücktheit. Er ist ja kein Mensch, er fühlt diesen Schmerz nicht. Also kann er, bildlich gesprochen, die Last der Trauer auch auf seinen Rücken mitnehmen. Seine Ladung da hinten auf dem Leichenwagen hat ja die Ewigkeit zum Ziel. Er, Kalypso, fährt alles dorthin. Er gibt das Tempo und den Takt vor. Und alle folgen ihm. Am Friedhof angekommen, wird nicht nur der Sarg, sondern auch die ganze Last der Trauernden abgeladen. Er spürt, wie sehr er den Trauernden dadurch hilft. Vor allem den Kindern.
Das ist doch ein wunderbarer Job, denkt sich Kalypso und beendet seinen Tagtraum. Er hört den Traktor noch in der Ferne verschwinden und er weiß, die nächste Fuhre in die Ewigkeit kommt todsicher!
17.11.2013 Alois